Wunder im Wind

Ein Kapitel aus meinem aktuellen Buch "Wunder warten gleich ums Eck" - Integral 2018, gelesen von mir


Warum gerade du: Lesungsmitschnitt in voller Länge


Zeitlose Tage

Aus: vier minus drei. Wie ich nach dem Verlust meiner Familie zu einem neuen Leben fand. München, 2010. Leseprobe: Seiten 60-67

 

Der 26. März 2008 

Der erste Kindergartentag nach den Osterferien. 

Heute würden sich alle Kinder der Gruppe nach eineinhalb Wochen erstmals wieder einfinden, um sich dem üblichen und vertrauten Tagesablauf aus Spielen, Musizieren und Turnen hinzugeben. Gegen zehn würden die beiden Kindergärtnerinnen ihre Schützlinge zum täglichen Kreisgespräch in den Turnsaal rufen.

Spätestens dann würden die Kinder bemerken, dass jemand fehlte. Spätestens dann würden sie, die kleinen wie die großen, die wilden wie die sanften, die mutigen wie die furchtsamen, erfahren, dass ihr Freund Thimo die Osterferien nicht überlebt hatte und dass er nie, nie mehr wiederkommen würde. 

Die »Bunten Knöpfe«. Thimos Kindergarten. Ich habe die familiäre Atmosphäre, die dort herrscht, stets genossen. Die offene und vertrauensfördernde Gesprächskultur zwischen Kindern und Betreuerinnen, Betreuerinnen und Eltern. Die beherzte Art, Probleme anzupacken. Wie oft hat mir Nelli, die Kindergartenleiterin, Mut zugesprochen, wenn ich wieder einmal glaubte, eine schlechte Mutter zu sein. Wie oft hat sie mir geholfen, die Welt durch die Augen meines Kindes zu betrachten. Wie oft hat sie schwierige Situationen entschärft, indem sie ihre Erfahrung sprechen ließ.

Du bist nicht die erste Mutter, die dieses Problem mit ihrem Kind hat. 

Was ihr erlebt, ist ganz normal. Jede schwierige Phase geht auch wieder vorüber. 

Achte darauf, was dein Kind jetzt braucht, und stelle keine Hochrechnungen an, im Hinblick auf die Zukunft oder die Fehler der Vergangenheit.

Am Mittwoch nach Ostern waren wir mit einer Situation konfrontiert, die den Rahmen aller Erfahrungen sprengte. Thimos Tod war nicht gerade etwas, das als normal zu bezeichnen war. Und ich war zwar bestimmt nicht die erste, wohl aber die einzige Mutter weit und breit, deren ganze Familie gestorben war.

Wie würde Nelli mit dieser Situation umgehen? Konnte sie mir Hilfestellung bieten? Was würde sie den anderen Eltern sagen? Was den Kindern?

Ob ein Rat wirklich weise ist, zeigt sich, so meine ich, nicht daran, wie oft er erteilt wird. Oder daran, wie viele Menschen ihn dankbar annehmen. Einen wirklich weisen Rat erkennt man daran, dass er in existenziellen Situationen hilfreich ist. In Situationen, die uns über die Grenzen dessen hinausblicken lassen, was wir zuvor für allein möglich und machbar hielten.

Achte darauf, was dein Kind jetzt braucht. Achte darauf, was jetzt wichtig ist. 

Jetzt. Am Mittwoch nach Ostern, am ersten Kindergartentag nach Thimos Tod brauchten die Kinder im Kindergarten vor allem das Gespräch. Sie brauchten Zuwendung und die Möglichkeit, alles auszusprechen, ihre Fragen, ihre Ängste, ihre Traurigkeit. Sie brauchten Menschen, die sich dem Thema Tod stellten und sich nicht hinter Andeutungen, Beschwichtigungen oder Tabus versteckten.

Ich weiß nicht, warum Nelli einfiel, mich in den Kindergarten einzuladen. Mich zu fragen, ob ich mit den Kindern über Thimos Tod sprechen könnte, um zehn Uhr, beim Kreisgespräch. Doch ich kann sagen, wie gern ich die Einladung annahm. Wie wichtig es für mich war, die Botschaft selbst zu überbringen. Und darüber, wie stark ich meine Lebenskraft spürte inmitten der lebhaften, quirligen Kinderschar.

Im Turnsaal.

Wir sitzen im Kreis, jedes Kind auf seinem persönlichen Polster. Das Polster, auf dem ich Platz genommen habe, ist grün. Es gehört Thimo. Ich habe es mir ausgeborgt.

In der Mitte brennt eine Kerze, jedes Kind darf sich 
ein Teelicht holen und vor sich aufstellen. Entzündet 
wird es später, zuerst müssen wir etwas Wichtiges besprechen.

»Ich weiß schon, der Thimo ist tot!« 

Felix, Thimos bester Freund. Unerschrocken wie immer. 

»Wir waren am Bahnübergang, ich hab die Trümmer gesehen.« 

Ein Mädchen meldet sich mit leiser Stimme:

»Ich habe Scherben von den Scheinwerfern eingesammelt, die hab ich jetzt zu Hause.«

»Ich hab sogar ein paar Plastikteile von Thimos Go-Kart gefunden, voll cool!« 

Ein weiteres Kind ist aufgetaut.

Ich höre zu, staune über den Mitteilungsdrang der Kinder. Ich erkenne, dass es ihnen leichter fällt, über Scherben und kaputtes Spielzeug zu sprechen als über das Fehlen des Freundes. Ein Autocrash. Ein kaputtes Go-Kart. Zertrümmerte Scheinwerfer. Das alles kennen selbst die Kleinsten, aus dem Fernsehen oder von der Straße, und irgendwie ist so ein Unfall doch immer auch cool.

Nelli hat ein feines Sensorium dafür, wann sich die Kreisgespräche der Kinder in eine unerwünschte Richtung zu entwickeln beginnen. 

»Wisst ihr was, wir zünden für Thimo unsere Kerzen an.«

Eine Zündholzschachtel wird herumgereicht, jedes Kind darf sein Licht selbst entzünden. Wer es nicht schafft, dem wird geholfen. Als alle Kerzen brennen, geben wir einander die Hände. Es wird schnell ruhig.

»Wo mag Thimo jetzt wohl sein?« 

Ich stelle diese Frage, weil ich mich nach den Antworten der Kinder sehne. Ich will ihre Version darüber hören, wo Thimo, Fini und Heli jetzt sind.

»Ich glaube, er fliegt jetzt über einen Regenbogen.«

»Ich habe von ihm geträumt, da war er auf einem großen Schiff, auf einem weiten Meer.«

»Ich glaube, er ist im Himmel.«

Ich lächle dankbar, eine Träne kullert langsam über meine Wange. Nelli schnäuzt sich leise.

Noch ein Rat, den ich einmal im Kindergarten erhalten hatte:

Wenn du Thimo mitteilen willst, wie es dir geht, erfinde immer eine Geschichte. Von Tieren oder Blumen oder Elfen. Das hilft euch beiden, Klarheit zu gewinnen. 

Ich habe es oft probiert, und die Geschichten, die entstanden, waren schön und heilsam, nicht zuletzt für mich selbst. Wenn ich Sorgen hatte, erzählte ich Thimo Geschichten, und oft verstand ich danach viel besser, was mein eigentliches Problem war. Mitunter, wenn ich auf Heli böse war, machte ich auch daraus eine Geschichte für Thimo. Es kam vor, dass ich während des Erzählens plötzlich Helis Standpunkt begreifen konnte. Am Ende des Märchens war meine Wut nicht selten verraucht, und ich fand mein persönliches Happy End in den Armen meines Mannes. 

Auch heute, zum Kreisgespräch, habe ich eine Geschichte mitgebracht.

»Wisst ihr, was ich glaube?« 

Neunzehn Augenpaare fixieren mich erwartungsvoll.

»Ich glaube, Thimo ist jetzt ein Engel, und dieser Thimo-Engel hat an dem Tag Geburtstag, an dem Thimo gestorben ist. Vorgestern hat der Thimo-Engel Geburtstag gehabt, und ich würde gern mit euch gemeinsam den Engelsgeburtstag von Thimo feiern.«

Im Kindergarten ist es üblich, dass an Geburtstagen jedes Kind dem Geburtstagskind etwas wünscht. So wollen wir es auch für den Thimo-Engel machen. Doch was wünscht man einem Engel?

Die Kinderköpfe rauchen vor Anstrengung. Zögern und Unsicherheit werden spürbar.

Gern würde ich jetzt die Gedanken der Kinder lesen. Denken sie in kindlichem Pragmatismus über nützliche Wünsche für einen Engel nach?

Braucht Thimo vielleicht einen ganzen Berg Schokolade? Die hat er doch immer so gern gegessen, und jetzt bekommt er bestimmt keine schlechten Zähne mehr davon. Soll man ihm viel Glück wünschen? Er ist doch bestimmt glücklich, dort, wo er ist. 

Viele Kinder wünschen dem Geburtstagskind das, was sie selbst gern hätten. So auch jetzt? Beginnen die Kinder, die größeren vielleicht, zu begreifen, dass sie eines Tages selbst ganz plötzlich und unerwartet als Engel auf einer Wolke sitzen könnten, unsichtbar für ihre Freunde?

Ich weiß es nicht. Vielleicht sind ihre Gedanken ja viel banaler. 

Die Stille ist anstrengend. Zum ersten Mal am heutigen Tag steht etwas wie Betroffenheit im Raum.

Wir teilen Wünsche aus. Wie immer. Wir denken nach. Wie immer. Doch etwas ist anders als sonst. Ganz anders. Das Geburtstagskind ist nicht da.

Reihum werden die Kinder gebeten, ihren Wunsch für Thimo auszusprechen. Ich bin den Kindergärtnerinnen dankbar. Sie halten am Ritual fest, obwohl es den Kindern sichtlich schwerfällt. Die Wünsche werden von Nelli auf Kärtchen notiert.

Viel Gold. Viel Spielzeug. Viel Schokolade. Viel Glück.

Dass du viel Spaß beim Spielen mit deiner Schwester hast. Dass du bei deinem Papu bist.

Als alle Wünsche ausgesprochen sind, gehen wir in den Garten. Ich habe eine Flasche mit Helium und Luftballons mitgebracht, jedes Kind darf sein Wunschkärtchen an einen Ballon binden. Nach einem gemeinsamen Countdown lassen wir die Luftballons alle gleichzeitig steigen. Glücklich blicke ich ihnen nach.

Die Ballonwolke ändert ständig ihre Form, während sie in den Himmel fliegt. Zu Beginn sehe ich sie noch ganz deutlich, nach einer Weile fällt es mir immer schwerer, sie zu erkennen. Irgendwann ist sie für meine Augen nicht mehr sichtbar, obwohl es unmöglich ist, den genauen Moment zu bestimmen, in dem sie verschwunden ist. Ich kann sie nicht mehr sehen, weil meine Augen dazu nicht in der Lage sind. Und doch weiß ich: Die Ballons sind noch da.

Wie vieles gibt es wohl noch, abgesehen von bunten Ballons, das da irgendwo zwischen sichtbar und unsichtbar durch den Himmel schwebt, allgegenwärtig und nur deshalb nicht erkennbar, weil meine Sinne nicht dafür ausgebildet sind, es wahrzunehmen?

Es ist elf Uhr. Jausenzeit.

Wie an jedem Geburtstag gibt es etwas Süßes. Maria, die zweite Kindergärtnerin, hat Schokoladentorte mitgebracht. Uns allen scheint klar, wo das unsichtbare Geburtstagskind sich jetzt aufhält. An seinem Platz. Vor seinem Teller, auf dem das größte Kuchenstück liegt. Wo sonst?

Ich sitze neben dem unsichtbaren Engel. Als ich meinen Teller geleert habe, ziehe ich das große Geburtstagskuchenstück zu mir herüber.

»Ich stelle mir gern vor, dass Thimo jetzt ein Teil von mir ist. Also esse ich nun seine Torte, damit er spürt, wie es mir schmeckt. So hat auch er etwas davon.«

Die Kinder füttern mich liebevoll. Ihre Zuwendung berührt mich zutiefst. Ich merke erst jetzt, wie sehr sich mein Körper und meine Seele nach kindlicher Energie sehnen.

Ein Bub klettert auf meinen Schoß und beginnt mich sanft zu streicheln. Ich entsinne mich, dass gerade er in letzter Zeit immer wieder intensiv mit Thimo gespielt hat. Ich umarme ihn und wiege ihn hin und her, wir genießen beide die Nähe zueinander.

Die Betreuerinnen betrachten die Szene mit staunenden Augen und offenem Mund. Sie haben den Buben noch nicht oft in so ruhigem Körperkontakt gesehen, schon gar nicht mit einer nahezu Fremden. Später erzählen sie mir, dass dieser kleine Junge zu Hause bisher kaum über Thimos Unfall sprechen konnte. Die Eltern waren offensichtlich überfordert. Sie wussten nicht, wie sie ihrem Kind den Tod des Spielkameraden erklären sollten. Ihre Unsicherheit war schnell in Schweigen übergegangen.

Während der Bub auf meinem Schoß sitzt, habe ich das Gefühl, dass er seinem Freund Thimo auf diese Art und Weise noch einmal seine Zuneigung zeigen will. Er akzeptiert mich als Stellvertreterin, durch die er mit Thimo kommunizieren kann. Zärtlich. Ohne Worte. Voll unaussprechlicher Liebe.

Ich fühle mich beschenkt durch die Liebkosungen des Buben, der Thimo in diesem Moment verblüffend ähnlich ist. Nützt Thimo die Gelegenheit, mich hier durch einen Stellvertreter zu besuchen? Mich zu berühren in einer Art, die ich verstehe? 

Die Jause ist zu Ende. Ich verabschiede mich von den Kindern, dankbar und erschöpft zugleich. Der Alltag im Kindergarten geht weiter. Meinen muss ich erst wieder finden. Irgendwann...